Der Grashalm
Eine Betrachtung von Norman Weitemeier

Grashalm. Grün. Nicht lang, vor drei Tagen wurde Rasen gemäht. Heute geringe Bewölkung, viel Fotosynthese betrieben.

Grashalme, auf die etwas schweres drückt, richten sich manchmal nicht wieder auf.
Dieser Grashalm hat Glück, wenn man bei nicht denkendem Leben von Glück sprechen kann: Es kommt nur eine Katze. „Schau, die Katze ist im Garten.“
„Ja?“
„Ja. Schau, im Garten ist sie.“
„Na, die wird sich aber freuen, jetzt wo der Rasensprenger endlich aus ist.“
„Ja, Glück hat sie, dass sie durch den Garten laufen kann ohne nass zu werden.“
„Aber der Rasen musste auch bewässert werden, sonst geht er ein.“
„Ja, stimmt schon.“
„Ach, an was man alles denken muss…“
„Mhm, was glaubst du, wie schnell es sonst so aussieht, wie im Garten nebenan…“
„Ja, da haben die Pflanzen nicht so viel Glück.“
„Glück? Schütten Pflanzen denn Glückshormone aus?“
„Weiß ich nicht.“
Es wäre interessant, würden unglückliche Menschen zur Erhöhung ihrer Zufriedenheit in glückliches Gras beißen können.
Der Grashalm biegt sich unter der Katzenpfote, die sich langsam, leise und vorsichtig senkt. Würde das das angenommene Glücksgefühl des Halmes unterbrechen? Ist er unzufrieden, obwohl jeder weiß, dass die Last einer Katzenpfote – zumindest dieser angenommenen Pfote – so leicht ist, dass er sich hinterher wieder aufrichten wird? Die Katze hebt ihre Pfote wieder, ganz langsam, leise und vorsichtig.
Würde jemand unglücklich, wenn er weiß, dass es unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich ist, dass es ihm nicht gelingt, sich in die glücksbehaftete Ausgangslage zurückzuversetzen?
Nächster Grashalm: Langsam, leise und vorsichtig senkt die Katze ihre Pfote.
„Horch mal, der Wind.“
„Ja. Ja… Hast du den Sonnenschirm reingeholt?“
„Ja, hab ich vorhin schon. Passt du überhaupt auf, was ich mache?!“
„Aber natürlich.“
„An den Rasensprenger hättest du doch auch nicht gedacht – oder erst, wenn es im Garten so aussähe wie bei den Nachbarn!“
Dieser Grashalmstand den ganzen Tag im Schatten unter dem Sonnenschirm, wo auch das Wasser aus dem Rasensprenger nicht hingelangte.
Ist jemand unglücklich und bekommt dazu noch einen weiteren Grund, unglücklich zu sein, wird er dann noch unglücklicher? Oder ist auch mal irgendwann Schluss?
„Ist damit mal irgendwann Schluss?!“, brüllt er. Warum? Die Katze weiß es nicht.
Sie hatte bissig gemeint: „Und unsere Küche sähe längst so aus wie der Nachbarsgarten, würde ich nicht immer aufräumen und den Müll rausbringen.“
„Ist damit mal irgendwann Schluss?!“
„Du hast doch angefangen zu behaupten, ich ließe den Garten verwildern!“
„Wir haben uns das so aufgeteilt, dass du das Haus machst und ich den Garten, aber nicht, dass wir gar nicht mehr aufpassen, was der Andere macht!“
Die Katze hat einen Vogel entdeckt, an den sie sich seit geraumer Zeit heranpirscht. Dabei biegt sie langsam, leise und vorsichtig Grashalme um, die sich hinter ihr mit leisem Rascheln wieder aufrichten.
Kitsch: Das Rascheln der Halme klingt wie ein erleichtertes Aufatmen.
Sie ist nicht mehr weit vom Vogel entfernt. Der Vogel würde einem bestimmt leidtun, wenn sie ihn fängt. Würde sie einem leidtun, wenn sie ihn nicht fängt? Sie würde vermutlich enttäuscht sein, falls Katzen mit dem Empfinden dieses hochkomplexen Gefühls vertraut sind.
Dreißig Sekunden mit dem Blick in eine andere Richtung vergehen.
„ Ich komme auch ohne dich zurecht!“
„Achja? Glaubst du?!“
„Ja, glaube ich nicht nur, sondern weiß ich!“
Ein kurzer Blick aus dem Fenster.
„ Schau, jetzt hat die Katze einen Vogel gefangen. Wir hätten sie davon abhalten können.“
„Ja“
Beide weinen. Um den Vogel?
Hinter der Katze richten sich die Grashalme wieder auf. Der Katze wird bestimmt bald langweilig; dann fängt sie sucht sie einen neuen Vogel. Vielleicht hat der mehr Glück.