Sonderbar
Wie ein alter Mann seine Nachtmütze verlor. Teil 4

Eine abgefahrene Bettgeschichte über die seltsamen Erlebnisse eines alten Mannes. Teil 4. Von Norman Weitemeier.

Die ausgeglichene, ja beinahe fröhliche, wenn auch nicht ausgelassene Stimmung des alten Mannes findet ein jähes Ende, als er vor sich die Treppe ins Erdgeschoss erblickt. Mit schreckensweiten Augen starrt er auf den näherkommenden Absatz. Er stellt sich unwillkürlich vor, in welcher Art und Weise, in welchem Tempo, mit welcher Neigung sein ungewöhnliches, ungewohntes Fahrzeug – und er ist davon überzeugt, dass es noch eine längere Zeit dauern wird, bis er sich vollends daran gewöhnt und damit abgefunden hat – sich die Treppe hinab bewegen wird. Sanft wie die Dunstwolke eines alten Mannes, aufgestiegen aus einem unwahrscheinlichen Schlafzimmer in einem See inmitten einer leicht hügeligen Landschaft, die sich jederzeit verändern kann, da sie von keiner Erinnerung abhängt, sondern lediglich auf den Vorstellungen des Mannes beruht, der die Dunstwolke wäre? Oder heftig ruckelnd, wie ein Fahrzeug auf einem Feldweg oder einer Treppe, wobei der Alte das Fahrzeug zu einem Fahrrad konkretisiert, da dieses am ehesten durch die Tür des Schlafzimmers passen würde, das jetzt aber nicht mehr in einem See liegt? Aber wer legt denn fest, dass diese fiktive Fahrt mit dem Fahrrad so wie die seines Bettes im Schlafzimmer beginnt und nicht etwa im oberen Flur, zu dem hin sich die ausschlaggebende Tür öffnet? Er hat es gedanklich selbst so festgelegt und er weiß nicht, wieso. Irritiert sieht er sich um, so als fehle etwas an der Situation, eine erwartete eigene Reaktion auf diesen Gedanken: Er stellt fest, dass, obwohl ihm sein Unwissen hinsichtlich des Grundes der offensichtlich unbewussten Festlegung des Startpunktes natürlich peinlich ist, er gar nicht nach dem Bettvorhang zu greifen versucht.

„Meinen Sie, dass sich ein Mensch in seinem Alter noch so stark von äußeren Umständen beeinflussen und prägen lässt, dass sich sein Verhältnis, in diesem Fall seine Angst, gegenüber der Gesellschaft beinahe normalisieren kann?“

„Nein“

Der alte Mann ist erstaunt, verwundert, er begreift sich selbst nicht mehr, bisher wie natürlich gegebene Gesetze seines eigenen Handelns, die soweit zur Gewohnheit, ja zu ihm selbst, geworden waren, dass sie unwillkürlich abliefen, sind nicht mehr. Ein vollkommen selbstverständlicher Teil seiner existiert nicht mehr. Er ist nicht sicher, ob ihm dieser Teil tatsächlich im Leben gefehlt hätte, hätte er ihn niemals gehabt. Es ist mehr so, als sei seine Angst, seine Panik vor der Blamage gar nicht er gewesen; es war ein Etwas, dass in ihm vorging, ohne dabei als eigener Gedanke durch einen Gedanken zu fassen gewesen sein könnte. Der alte Mann hatte sich nicht verloren, er hatte etwas wie einen schlechten Freund verloren, der ihn seit Jahren begleitet hatte. Er überlegt, wann die Angst zu ihm gekommen war: Als Kind nachts im Dunkeln? Mit vierzehn, als nichts war, wie er es wollte? Oder vielleicht viel später, als er längst verheiratet war? Er erinnert sich an eine Situation, die ihn sofort an den Weg ins Erdgeschoss erinnert und auch ganz unabhängig davon schaudern lässt: Er war mit seiner Frau auf einem Jahrmarkt gewesen – schon das hatte ihn Überwindung gekostet. Buden, in denen man Essen kaufen konnte, Buden, in denen man Getränke kaufen konnte, Schießbuden, ein Riesenrad – und er versteht nicht, was Menschen an Riesenrädern so begeistert – Buden, in denen man Getränke kaufen konnte, Losbuden, in denen man sich betrügen lassen konnte, mittendrin unzählige Betrunkene, Buden, in denen man Essen kaufen konnte, Autoscooter, Buden in denen man Getränke kaufen konnte, Schießbuden, mittendrin unzählige Betrunkene, Achterbahnen, Buden, an denen man Getränke kaufen konnte, Buden, an denen man Essen kaufen konnte und mittendrin zwischen unzähligen Betrunkenen: Er. Er fühlte sich dort nicht richtig; er gehörte dort nicht hin. Er beobachtete die anderen, wie sie aßen, tranken, schossen, kauften, sich mit unerklärlichem Eifer diesem Unsinn widmeten, der ihnen auch noch Freude zu bereiten schien, und wie sie Achterbahn fuhren. Dann gab es einen Schock. Seine Frau wollte mit ihm Achterbahn fahren. Er ließ sich dazu überreden. Zuvor hatte er sich gewundert, weshalb Menschen sich freiwillig solcher Albernheit, solcher Peinlichkeit, solcher Beschäftigung, die zwangsläufig ins Würdelose führen muss, hingeben. Nun war er selbst an der Reihe.

So wie damals durch die Achterbahn fühlt er sich auch jetzt durch sein Bett seiner Würde beraubt, der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn ihn auch in seinem Bett niemand sieht. Allerdings ist er jetzt, wie ihm auffällt, würdevoller unterwegs als in der Achterbahn, denn in sein Bett ist er nicht in dem Bewusstsein gestiegen, dass es losfahren würde, in die Achterbahn dagegen schon. Der alte Mann nimmt sich vor, das Bett von nun an als ein denkendes Element, denn ein Wesen ist es nicht, anzunehmen, um seine Würde zu behalten, da die potenziell entwürdigenden Momente in Zusammenhang mit diesem Element nicht mehr auf seiner Freiwilligkeit dessen Erwerbs und Betretens beruhen, sondern auf dem Willen des Bettes, gegen den er machtlos ist.

„Was macht denn da den Unterschied?“

„Es ist ein  Unterschied, ob Sie in einer Achterbahn oder in der Bäckerei wild mit den Armen rudern und schreien, also jedenfalls freiwillig, oder ob Sie in eine Situation gelangen, die, wäre sie auf Grundlage Ihres freien Willens entstanden, für Sie peinlich wäre, es aber nicht ist, da sie nie Ihr Einverständnis gegeben haben. Es ist gewissermaßen eine Frage der Schuld.“

Er ist zum ersten Mal froh, damals Achterbahn gefahren zu sein, denn sonst hätte er seine Würde angesichts der Treppe, wenn auch nicht vor jemand anderem, so doch zumindest vor sich selbst verloren so wie er seine Angst und seine Nachtmütze verloren hat. Sein Bett trägt die Schuld. Er weiß nicht, wo seine bisher dauernde Angst jetzt ist. In ihm schlummernd, wie ein Diktator als friedliches Kind? Vielleicht ist die Angst bei der Nachtmütze…In diesem Bett ist vieles möglich, der alte Mann weiß nur nicht, was. Aber er ahnt: Sein Bett fährt weiter.

Wird fortgesetzt.