Politik 2.2: Revolution to Go.
Uganda, Israel, Iran ...

Im Wind flatternde Wink-Elemente, große Reden, viel Tamtam und Händeschütteln. Volksnahe Politik die gegenwärtig wie schales Bier am Stammtisch langsam vor sich hin altert. Die Zielgruppen haben ihre Gewohnheiten geändert. Die Botschaften sind gleich geblieben, tragen moderne Garderobe. (Von Kristin Behlert)

International, Global, Nachhaltig und vor allem Umwelt. Gelegentlich ertappt man einen der politischen Vertreter mit Ausschweifungen mit denen andere ganz selbstverständlich ihren Tag füllen. Ein lautes „Aaah“ und „Ooooh“ mit er-hobenen Zeigefingern wandert paradegleich durchs Land. Das Interesse am Politiker auf der Medienagenda steigt.  Viele wissen es besser, wenige schweigen und den meisten wäre so etwas nicht passiert.

Meine Meinung: Politikverdrossenheit ist eine Lüge! Es gibt Interesse. Es gibt Engagement. Es gibt Austausch und es gibt Meinungen. Es gibt sie! Im Internet, dem weltweiten Netzwerk. Die, die verdrossen sind, von den Anderen, die Ihnen nicht zuhören wollen, unterschätzen nach wie vor die Möglichkeiten dieser Vernetzung, die wie ein 24Stunden Intershop, zu jeder Zeit Politik zum Mitnehmen und Mitmachen anbietet. Foren, Unterschriftenlisten, Petitionen für den Bundestag.

An einem Tag im Büro hat der neue aktive Web-Politiker eine Frau vor der Hinrichtung bewahrt, einen langjährig herrschenden Diktator in die Knie gezwungen und ein Stück Wald für Gorillas vor der Abholzung bewahrt. In der Mittagspause kurz eine Online-Unterschrift gegen die Schließung des Theaters in der Nachbarschaft. Während nachmittags das virtuelle weltpolitische Auge nach Uganda blickt, wo man – zugegeben – vorher nur erahnte, was da vor sich ging. Gegen Abend kann er mitunter behaupten, er habe ein Kind vorm Tode gerettet.

Es gab Süßes im Netz: KONY 2012 – wie Zuckerbonbons die sich in Regenschirmen ansammeln, die vorsorglich mitgebracht wurden, wurde dieser etwa dreißigminütige Film einer US-Organisation von einer Plattform zur Nächsten geschubst. Hollywood sei Dank, rein filmisch hat man sich nicht lumpen lassen. Kinematografisch keine Billigproduktion schildert der Film ganz familiär und emotional das Bild des ugandischen Kriegsverbrecher Joseph Kony. Der Film wurde binnen kürzester Zeit 100Millionenmal abgerufen.

Die NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) nennen sich „The invisible Children“. Sie wollen entführten Kindern eine Stimme geben, dem dafür Verantwortlichen Kony einen Bekanntheitsgrad verschaffen und somit internationalen Druck erzeugen, damit seine Gräueltaten ein Ende nehmen. Eine moderne politische Hetzkampagne, meinen die einen. Eine politische Glanzleistung wie schon bei Obamas Wahlkampf meinen die anderen.
Das Aktions-Kit, ein kleiner Kasten mit Poster, Armband und allem was man für einen schnellen Aufstand braucht, kann man im Internetseite der „Invisible Children“ bestellen.

Man möge mir die Bemerkung gestatten, dass ich unschlüssig darüber bin, ob jemandem zur  Sichtbarkeit verhelfen wird oder Geld in Hände von unsichtbaren Kindern fließt. Aber wen interessiert das schon. Grafisch ist es gut umgesetzt und ein T-Shirt kann man immer gut gebrauchen.

Zumindest aber ist es ein gegenwärtiges Beispiel wie rasant Politik durchs Netz rast und Revolutionen in Sekundenschnelle an einem anderen Ort eine Tsunamiwelle auslösen. Tage und Wochen später gibt es eine Menge Kritiker. Viele Fakten im Video entsprächen nicht den Tatsachen, das Bild Afrikas sei verzerrt worden. Dennoch – heute hat die ugandische Armee Konys Chefstrategen gefasst. Ist das gut? Wer weiß das schon. Gibt es dort Ressourcen, die für die Industrieländer interessant sind? Mit Sicherheit. Die Wahrheit liegt dazwischen und Liebe siegt.

So auch in Israel und im Iran, glaubt man dem Internet. We love Iranian. Menschen aus Israel und Iran erheben sich, stimmen ein gemeinsames Liebeslied an. Ronny Edry, 41 Jahre alt, Vater, Lehrer und Grafikdesigner ist der Taktgeber. Er ist Israeli und ihm geht die andauernde Gegenwärtigkeit des Krieges schlichtweg auf die Nerven. Auf seiner Facebookseite veröffentlicht er ein Poster. Darauf zu sehen: er und seine Tochter und der Spruch: Iranians we will never bomb your country. We ♥ You. Innerhalb der nächsten 24 Stunden geht das Bild durch soziale Netzwerke, werden Medien aufmerksam. Innerhalb der nächsten 24 Stunden kommt Antwort aus dem Iran. Israeli People, We ♥ you too.

Menschen stellen fest, wie irrsinnig jahrelanger Zwist ist mit dem sie nichts zu tun haben. Sie rücken zusammen, mischen ihre Meinungen wie Gewürze unters Volk. Auf das die Suppe endlich geschmackvoller schmeckt.  Sie wollen Krieg verhindern. Edrys Botschaft ist simple: „Ich habe keine Angst vor Euch“, schreibt er in einer weiteren Botschaft an die Adresse der Iraner, „ich hasse euch nicht, ich kenne euch ja gar nicht. Ich habe noch nie einen Iraner getroffen. Doch, einen, in einem Museum in Paris. “ Ein netter Kerl war das, schreibt er weiter.  „Wir sind nicht naiv“ so Edry. Veränderung oder zumindest zeigen, dass man der eigenen Stimme Gehör verschaffen kann. Ist das gut? Wer weiß das schon. Zumindest ist es ein Versuch.

Was aus dem Versuch Politik im Internet wird und wie sich das überträgt in den ganz normalen Arbeitsalltag eines Abgeordneten, das wissen wir auch nicht. Wenn also künftig der Sack Reis in China zu Fall kommt, wird es jemanden geben, der darüber twittert oder wenigstens ein Foto um die Welt wandern lässt.

Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht in:
JiM – Das Magazin, Ausgabe 38, April 2012.