Dämonopolis
Teil 4: Der Wandel und das Erwachen

Die Schatten verlieren ihre Kraft und eine neue Macht wächst heran. Dämonopolis. Ein literarisches Experiment vom Meister der Schwarzen Poesie, Stephan Pitelka. Teil 4.

Sein Schatz war magisch. Er nahm alle Gefühle und Empfindungen in sich auf, die ihm der Reisende offenbarte. Und sobald der Blick des Kindes ihn traf, versank er in dessen Dimensionen. Nur mit Mühe konnte er sich dann aufraffen und wieder seine eigenen Gedanken zurück erlangen.

Es war wie ein Rausch, der in einer tiefen Ruhe endete. Keine Gier mehr, keine Rastlosigkeit. Er hatte alles in der Hand. Oder nicht?

Zuweilen fühlte er sich freier als sonst. Je mehr Seelen und Gefühle er dem Kind gab, desto weniger verlangte ihm selbst danach. Ja, es war sogar so, dass er fast keinen Drang mehr verspürte, sein altes Tun wieder aufzunehmen.

Sein Schatz wuchs gut heran, konnte jetzt bereits laufen. Er musste ständig ein Auge auf das Kind haben. Kraft seiner Macht hielt er es im Zaum, doch die Fröhlichkeit des Kindes erschreckte ihn. Wie konnte jemand in seiner Gegenwart so ausgelassen und heiter sein? War er nicht der Beschreiter der Welten, der an sich nahm, was auch immer er fand? Der vor nichts Halt machte und am Ende triumphierte?

Eines Tages wollte er wieder mit dem Wind reisen, der ihn bisher stets sicher getragen hatte. Das Kind nahm er an die Hand, aber der Wind war nicht mit ihm unterwegs, sondern gegen ihn. Mal wehte er leicht aus Osten, dann blies er stark aus Westen, dann ebbte er jäh ab, so das sie nur mühsam vorankamen.

Als der Reisende zufällig an sich herunter sah, erblickte er zunächst nur schemenhaft seine Gestalt. Doch an manchen Stellen sah er plötzlich Teile der Landschaft hindurchschimmern, auf der sie sich bewegten. Er erschrak. Das Kind neben ihm verstärkte seine Angst noch, indem es sich mit einem Lachen von ihm losriss und ein paar Schritte voraus rannte.

Des Reisenden Wille versuchte, den kleinen Menschen wieder einzufangen. So hatte er es bisher immer getan und noch nie mit dem Kind sprechen müssen. Aber diesmal zeigte sein Wille keine Wirkung. Das Kind rannte einfach weiter. Er wollte hinterher, versuchte, sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Er hatte … keine Beine mehr! Tatsächlich schwebte er über dem Boden! Er fühlte nur noch die verblassende Wahrnehmung seines einstigen Selbst. Er schrie. Das Kind hielt an, drehte sich um und blieb stehen.

Es legte den kleinen Kopf schief und starrte die Reste des Reisenden an. Es war nun eher eine Spiegelung, die es da erblickte. Sich bewegende Luft. Und noch bevor der Reisende sich endgültig auflöste, drang das erste Wort des Kindes zu ihm, das es in dieser Welt sprach: „DÄMON!“

Es zeigte mit dem Finger in die Richtung, in der eben noch so etwas wie eine Form aus Luft zu sehen gewesen war. Dann huschte ein kleines Lächeln über das Gesicht des Kindes. Es wusste, das es frei war. Es sprang in die Höhe, klatschte in die Hände, rief immer wieder: „DÄMON! DÄMON!“ Es sang und tanzte, wirbelte ausgelassen umher. Die Schatten waren gegangen, die Hoffnung hatten sie besiegt.

Der Wind lebte auf, schwoll an, kam jetzt aus Norden, dann Süden, dann aus allen Richtungen. Er tanzte wild, als wollte er dem Kind nacheifern. Er trug es voran, schneller als je zuvor. Es war nicht mehr weit, das Ziel war gewiss.

Fortsetzung folgt!

2013 by Stephan Pitelka