Beiderseits der Logik
Die Weihnachtsgans

Wie sich der Mensch im Essen zeigt

Sie saßen am Tisch und Vorfreude ließ in hungrigen Mündern Speichel fließen, dann und wann von ihren Zungen schlangenhaft leckend auf von trockener, dunkler Luft gesprungenen, Lippen verteilt. Die Lippen des Kleinsten waren ein wenig blau, als hätte der über den Schnee gelegte Himmel abgefärbt. Gebratener Geruch stand in erkälteten Nasen, legte sich auf Kleidung und ungewaschenes Haar – das Wasser war zu kalt, Holz und Kohlen zu kostbar; an denen wärmte sich die Gans ein letztes Mal, die vor zwei Tagen der Vater endlich mitgebracht hatte.
Vom Dorf, von einem Freund, wie er sagte, hatte er sie geholt für so wenig Geld, wie eben möglich gewesen war; denn sie wollten nicht auf die Gans verzichten, auf ihr Geschenk, obgleich sie vor zwei Jahren in die Stadt gezogen waren, wo Glück andere verwöhnte, und zuversichtlich den alten Hof verkauft hatten für ein neues zugiges Haus und für Arbeit, wo es welche gab. Und dem Kleinsten klapperten die Zähne wie der Tod; ob er Fieber habe, fragte die Großmutter. Nein, sagte die Mutter, nein und daran glaubte sie; besorgtes Nicken: Gut.
Der Vater nieste; Verzeihung – Ich muss mich vorgestern erkältet haben.
Sie waren lang unterwegs gewesen, der Vater und der Zweitälteste, aber der Preis wäre zu hoch geblieben, hätte das magere Kind nicht Mitleid erregt. Als sie wiederkamen, waren zwei seiner Zehen erfroren. Sie hatten eine Gans. Auf ihrem Hof hatten sie früher immer Gänse gehabt, doch in der Stadt wartete Glück, ein besserer Herd; der Nachbar war freundlich, ein verwitweter Totengräber – er lächelte wissend die Kinder an.
Trotzdem meinte der Großvater, den sie eingeladen hatten, sie hätten nie in die Stadt ziehen sollen. Du hättest ja nicht herkommen brauchen!, sagten sie ihm, Die Gans können wir auch ohne dich essen.
Jaja…vielleicht bleibt von dem kleinen Tier ja ohnehin nichts für mich übrig.
Ich sehe nach dem Essen, sagte die Mutter.
Gerade war der Zweitjüngste durch die Tür hereingehumpelt: die Besorgungen für das Weihnachtsessen. Was hat es gekostet?, fragte der Vater; sein Sohn grinste schief; der Großvater schüttelte langsam den Kopf. Der Kleinste hustete angestrengt und vergeblich, war ein Geschenk an den Nachbarn – Ein Festtag! –; der Ofen wärmte die totenkalte Gans und die aufgeschnittene Zwiebel begann zu weinen – es war alles wie ein Spiegelbild.
Dann rief die Mutter, das Essen sei fertig; die frohe Botschaft. Sie aßen schweigend den halbverhungert geschlachteten Vogel und die Stille fraß sie auf.

Weihnachtsgans_Überreste - Kopie
Text und Bilder: Norman Weitemeier