Beiderseits der Logik
Wichtige Zusammenhänge

Allseitige Annäherungen an das Leben, den Alltag und andere seltsame Angelegenheiten unter wortreicher Verknüpfung des Sinnes, Unsinnes und anderer Sinne sowie Widersprüche von Menschen und Gedanken.

In einem Korridor, in dem ab und zu etwas Putz von der Decke zu rieseln scheint – zumindest deuten die kleinen Ansammlungen von Staub und Fragmenten vermutlich herabgefallenen Baumaterials darauf hin – hängen an der linken Wand zwei Karten: eine Postkarte, im schwachen Licht nicht richtig zu erkennen; es ist wohl ein Strand zu sehen mit hellem, fast weißen Sand und blauem Meer. Am Wasser entlang reihen sich Liegen, Liegen und Liegen und Sonnenschirme, die den Strandurlaubern Schatten spenden, vielleicht auch ein Gefühl der Geborgenheit, denn wenn man schon von allen Seiten her beobachtet werden kann, so ist doch zumindest die Sicht von oben her versperrt. Eine Landkarte der Eifel, doch um die Ortsnamen zu entziffern ist es zu dunkel.

Schlechte Beleuchtung, Bild: Norman Weitemeier.

Der Korridor befindet sich in einem kleinen Hotel im Harz und gegenüber der Landkarte öffnet sich eine Zimmertür. Eine Frau tritt heraus. Sie ist bemerkenswert dick, trägt Wanderkleidung; sie will heute mit der Seilbahn fahren. Die Eifel betrachtet sie nicht. Von einem Sonnenschirm würde sie nicht vollständig verdeckt – warum sollte sie das auch werden? Sie liegt ja schließlich nicht am fast weißen Sandstrand, der wiederum nicht in der Eifel liegt, die man von diesem Korridor aus nicht mit der Seilbahn erreicht, auch nicht mit dem Fahrstuhl, der nach oben oder unten fährt und auf dem man nicht sitzen kann.

Ganz anders verhält es sich mit den Stühlen im Restaurant: auf denen sitzt man sehr bequem – soll der zur Hölle fahren, denkt sich die dicke Frau, der gestern am Nachbartisch saß. Sie hat ihm angesehen, wie gern er sie ausgelacht hätte; seine spöttischen Blicke, die hat sie gesehen. Sie hat alles genau beobachtet: wie er sich setzte, bestellte, begann zu essen, sich Sauce auf die Hose tropfte – ungeschickt war er – und sich umschaute wie jemand, der hofft, er werde nicht gesehen, nach akribischem Rechnen bezahlte und ging.

Einen Sonnenschirm hatte er nicht dabeigehabt; er war gesehen worden. Wüsste er es, so wäre es ihm unangenehm, was an seiner aktuellen Situation allerdings nichts ändern würde: Er stand bis vor wenigen Augenblicken unter der Dusche, die er soeben verlassen hat. Niemand konnte ihn daran hindern. Er geht zur Tür, um sein auf dem Bett liegendes Handtuch zu holen, horcht auf: das Hotelpersonal betritt sein Zimmer, wahrscheinlich, um es einer Reinigung zu unterziehen.

Er hat seine Kleidung nicht mit ins Badezimmer genommen. Mit einem Anflug von Verzweiflung im Blick sieht er sich um und sucht nach Möglichkeiten, das Bad bedeckten Leibes zu verlassen, beschäftigt sich zu diesem Zweck mit allerlei widerspenstigen, ja durchaus als aktiv wehrhaft zu bezeichnenden Schranktüren und Schubladen, von denen die Hälfte abgeschlossen ist, dabei allerdings die Hälfte der Schubladen und Schränke insgesamt, nicht die jeweils halben Türen und Schubladen.
Er sucht etwas Positives an der Situation: es gelingt ihm, sich darüber zu freuen, dass die Dusche nicht abgeschlossen war.

Er findet sich mit seiner Lage ab, ohne dabei an die Seilbahn zu denken, was auch nicht nötig ist. In der Seilbahn sitzt die dicke Frau und schaut in die Landschaft. Es ist recht anstrengend, jedoch hätte sie die Ursache dafür nicht genau benennen können. Sie vermutet, es liege in der Tatsache begründet, dass es nichts gibt, worauf man sich konzentrieren kann, weshalb das Wachbleiben schwerfällt, weil es letztendlich ja bloß sich selbst dient. Bedauerlicherweise sind keine Sonnenschirme zu sehen, während auch Sonne ohne Schirm durch Abwesenheit glänzt, wobei jede Abwesenheit zwangsläufig durch eine andernorts gegebene Anwesenheit bedingt wird, die in diesem Fall den Strand auf der Postkarte betrifft, aus der kein Sand rieselt und kein Wasser fließt, auch nicht ganz langsam, nicht einmal so langsam wie das Hotelpersonal die Zimmerreinigung betreibt und damit den ungeschickten Mann in seinem Badezimmer festsetzt, ähnlich wie die dicke Frau in der Seilbahngondeltür festsitzt, als sie aussteigen will.

Wegweiser zum Fahrstuhl, Bild: Norman Weitemeier.

Die Seilbahn wird angehalten und den Bediensteten des Hotels damit die Gelegenheit eingeräumt, sie hinsichtlich des Maßes der Erfüllung vorgesehener Leistungen zu überholen, was leider nicht gelingt. Im Korridor fallen kleine Bestandteile der Deckenauskleidung von oben nach unten an der Eifel vorbei, in die der Fahrstuhl nicht fährt, der dem Mann unerreichbar scheint, da er noch immer im Badezimmer ausharrt.

Man beschließt unterdessen, die Gondel vorübergehend durch eine andere zu ersetzen und, während die Seilbahn störungsfrei weiterfahren kann, die dicke Frau aus ihrer Gondel auszubauen. Ein findiger Ingenieur unter den Anwesenden hat beobachtet, wie die Frau in der Talstation in die Gondel hineingelangt ist und leitet daraus einen Plan zu ihrer Befreiung ab.

Der ungeschickte Mann im Badezimmer verspürt ein leichtes Hungergefühl. Zu seinem Bedauern hat er in keinem der Badezimmerschränke einen Grill oder eine sonstige Möglichkeit zur Zubereitung der Bratwurst gefunden, die er stets in seiner Tasche mit dem Rasierer und der Zahnbürste mit sich führt, falls er einmal noch etwas zu sich nehmen muss, damit das Zähneputzen sich dem Aufwand entsprechend lohnt.

Man beginnt, die Rückwand der Seilbahngondel abzusägen. Das Einsteigen ist der Frau gelungen, indem sie Anlauf nahm und hineinsprang, was für den Vorgang des Aussteigens aus der Gondel der eingeengten Platzverhältnisse in deren Innerem wegen nicht möglich ist, sodass angestrebt wird, der Frau durch das Entfernen der Wand hinter ihr mithilfe einer Handkreissäge, einen ausreichenden Anlauf zu ermöglichen, um mit Schwung durch die vordere Tür wieder in die Freiheit zu springen.

Während im Hotel die Betten noch nicht gemacht sind, der Mülleimer allerdings bereits als Herausforderung erkannt, sind die Vorbereitungen an der Gondel abgeschlossen. Die dicke Frau verkündet nun, sie werde gar nichts mehr tun; sie gebe auf.

Müllbehälter, Bild: Norman Weitemeier.

Um mehr Zeit zur Planung der bestmöglichen Herangehensweise an die Leerung des Mülleimers im Zimmer des ungeschickten Mannes zu haben, beschließt das Hotelpersonal, sich zunächst des Badezimmers anzunehmen. Man ist bestrebt sorgfältig zu arbeiten, da der Gast gestern Abend ein passendes Trinkgeld gegeben hat, nachdem er dieses mit dem Taschenrechner gewissenhaft ermittelt hatte.

Die Tür zum Badezimmer wird geöffnet. Der Mann entschuldigt sich für seine Nacktheit, die Situation ist ihm sichtlich unangenehm; er trägt weder Kleidung noch hat er eine Handkreissäge bei sich oder verfügt über einen Sonnenschirm. Die für die Zimmerreinigung verantwortlichen weisen ihn darauf hin, er habe sich doch wenigstens in die Karte der Eifel einwickeln können, das machen schließlich alle Gäste so, die in eine vergleichbare Lage geraten, erst neulich einer beim Frühstück.

Auf seinen Einwand, die Karte hänge doch im Korridor und nicht im Bad, entgegnet man, er hätte dort mit dem Fahrstuhl hinfahren können. „Vom Badezimmer aus in den Korridor? Mit dem Fahrstuhl?!“
„Natürlich. Was dachten Sie denn, wo der hinfährt? An den Strand?“

Als Entschädigung für die Unannehmlichkeiten schenkt der Mann dem Hotelpersonal die Bratwurst und multipliziert diese im Taschenrechner mit der Zahl sieben.

Die Ingenieure lassen die dicke Frau zurück, um beim Leeren der Mülleimer behilflich zu sein, denn davon hängt vieles ab. Die Frau, jetzt allein und gelangweilt, verlässt die Gondel planmäßig mit Anlauf. Durch den Schwung stolpert sie in den Fahrstuhl, der sich in Bewegung setzt.

Als die Tür des Fahrstuhls sich öffnet, sieht sie erstmals bewusst die Landkarte, die ihr nach Abschätzen der Fläche als geeigneter Ersatz für einen Sonnenschirm erscheint. Sie freut sich, dass der Fahrstuhl hier und nicht im Badezimmer des ungeschickten Mannes angekommen ist, der die Hose mit den Saucenflecken von der Gesamtzahl seiner Hosen subtrahiert.

Gut, dass er den Taschenrechner nicht entsorgt hat. Daran erkennt man, wie wichtig der Mülleimer ist. Noch immer unbekleidet späht er durch die einen Spalt geöffnete Zimmertür auf den Korridor, wo die dicke Frau sich der Eifel bemächtigt, in der er sich den Anweisungen des Hotelpersonals entsprechend vor neugierigen Blicken verbergen wollte.

Jetzt lacht er nicht mehr, aber der Putz rieselt immer noch von der Decke des Korridors, in dem es recht dunkel ist, sodass man all das kaum erkennt.

Norman Weitemeier